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Erziehung und Realität

Virtuelle Erinnerungen

oder: Der Erhalt von Werten, Fertigkeiten und der Sinne

Anna von neverlookedsobeautiful hat einen Beitrag über Große Gefühle und moderne Unverbindlichkeiten: Welche Werte kann ich meinem Kind noch vermitteln geschrieben. Ich stimme ihr in allen Punkten zu.

Auch wir machen uns Gedanken, welche Werte wir unseren Kindern mitgeben. Schon heute gibt es nur noch wenig Verbindlichkeiten. Ein Anruf, eine WhatsaApp oder was auch immer und man sagt eine Verabredung ab oder plant um. Theoretisch ist jeder immer erreichbar. Ich persönlich stehe sehr auf verbindliche Zusagen. Ich freue mich dann auf die Treffen. Selbst bei locker angedachten Verabredungen ist es mir unangenehm abzusagen. Wobei letzteres mit Kindern doch immer mal vorkommt. Mit Kindern ist immer mal was. Dennoch habe ich das Gefühl, dass in unserem Umfeld die Verbindlichkeit noch gut klappt. Ich merke auch, dass die Kinder das mögen. Bei nicht fest beschlossene Treffen sage ich den Kindern auch nichts im Vorfeld, damit sie eben nicht das Gefühl von Beliebigkeit entwickeln. Wenn nämlich die Verabredung doch nicht klappt (egal von welcher Seite), kann auch niemand enttäuscht sein.

Ich selbst habe schon immer gerne kommuniziert und wäre ich jetzt Teenager, ich wäre die meiste Zeit online. Mehr als ich es jetzt als Erwachsene auch schon bin. Ganz klar.
Damals aber war man durch den analogen Weg gebremst. War die Freundin nicht zu Hause, konnte man nicht telefonieren. Und ein Brief brauchte ein paar Tage bis er beim Adressaten ankam und dann brauchte es wieder ein paar Tage, bis ein Antwortbrief kam. Man war zum Warten „verdammt“. Aber wie schön war doch auch das Kribbeln und Warten, die Vorfreude. „Ob der Brief schon angekommen ist?“ -„Heute müsste er schon da sein.“- „Ob schon eine Antwort unterwegs ist?“-Vielleicht ist morgen schon ein Brief da?“ Ich hab das geliebt. Und dann kam der ersehnte Brief (und es handelte sich meistens nicht um Liebesbriefe sondern um Briefe von Brieffreundinnen oder einer weggezogenen Freundin in der Ferne.) Da sah man schon an der Handschrift wer geschrieben hatte. Manchnmal war der Brief dick, manchmal dünn. Der Umschlag mal groß, mal klein, mal bunt bemalt, mal schlicht, mal mit lustigen kleinen Botschaften.
Man öffnete die Briefe und manchmal fielen Bilder oder kleine leichte Dinge heraus. Irgendwelche Erinnerungen. Jeder Brief roch anders. Manchmal konnte man beinahe den Absender erschnuppern. Manchmal war er nass geworden oder zerknickt. Jeder Brief war wie ein kleiner Schatz. Ein Unikat. Er hatte einen mehr oder weniger unbekannten Weg zurück gelegt. Und man hatte Zeit und hat den Brief mehrmals gelesen und sich gefreut wie bekloppt. (Ich jedenfalls.)

Heute bin ich mittlerweile auch ungeduldiger. Es ist bequem und schnell einfach eine mail zu tippen. Vielleicht schnell noch ein Foto angehängt und fertig. Ab die Post. Irgendwie auch unpersönlich. Ich fürchte da lebe ich den Kindern auch das schnelle Zeitalter vor.

Bilder hatten zur analogen Zeit auch eine besondere Bedeutung. Ein Papierfoto konnte man zwar auch nochmal abziehen lassen, aber nur sofern man im Besitz des Negativs war. Ohne das war es ein wertvolles Unikat.

Kann man in der heutigen virtuellen Bilderflut einzelne Aufnahmen überhaupt noch wertschätzen?

Werden e-mails so wertgeschätzt wie Briefe?

Und dann stelle ich mir eine andere Frage. Die Schnellebigkeit, die schnelle und immer verfügbare Kommunikation und die Möglichkeiten Bilder immer zu erzeugen und zu verbreiten, lässt uns das die Fähigkeit verlieren mit ALLEN Sinnen zu erleben? Und wenn ja, ich bin vielleicht da antiquiert, wird man dadurch nicht auch ein bisschen blöd und verliert den Bezug zur Realität? Stumpfen die Sinne dann nicht so ab, dass man selbst keine Entscheidungen mehr treffen kann, ohne vorher das Internet zu befragen?

Es fängt an mit der Navigation und hört auf mit einem Gespür für Lebewesen.
Würde die Technik zusammenbrechen, es wären ziemlich viele Menschen ziemlich aufgeschmissen. Glaube ich.

Wenn man sich immer und überall anhand der Technik navigieren lassen kann, geht doch der Spürsinn für Richtungen verloren. Toll finde ich, dass ich alle Landkarten dieser Welt online finden kann. Ich kann mir die Verkehrswege einfach überall ansehen. Und das mache ich auch, wenn ich eine unbekannte Strecke vor mir habe. Ja, ich nutze sogar die Streetviewansichten. Dann weiß ich ganz typisch weibisch, an dem Fahradladen auf der Ecke rechts abbiegen. Ich notiere mir markante Wegpunkte und fahre mit dem Auto los. Ohne Navi. Mein Navi ist ein vollgekritzelter Zettel. Das erste und einzige Mal, dass ich MIT Navi gefahren bin, fühlte ich mich verloren. Ich verließ mich darauf und hatte keinen blassen Schimmer davon welche Orte um mich herum liegen müssten. Als ich wegen eines angeblichen Staus auch noch umgeleitete wurde, saß ich fluchend hinterm Steuer.
Ich habe mich ohne Navi natürlich auch schon verfahren, aber weil ich die Karte studiert hatte, wusste ich: „Aaaach, der Ort Sowieso war doch ganz in der Nähe vom Ziel und dieser Ort ist hier ausgeschildert. Dann fahre ich mal dahin.“ Und am Ende bin ich immer angekommen. Manchmal auch schimpfend. 😀

Dann weiß ich nicht, ob die heutige Jungend ihr Umfeld noch wirklich wahrnimmt. Sie sitzen an Bus-und Bahnhaltestellen und in den öffentlichen Verkehrsmitteln mit Smartphone in der Hand. Damals musste man schon ein Buch lesen und wenn man das nicht tat, dann saß man da und wartete.
Wieviel Zeit habe ich als Teenager schon wartend an Haltestellen und in öffentlichen Verkehrsmitteln verbracht? Mal mehr mal weniger ungeduldig. Aber wenn man sich auf die ZEIT mal einlässt, dann entdeckt man was. Selbst an hässlichen Haltestellen. Man riecht die Luft. Riecht es nach Frühling? Nach Sommer? Wie ist die Luft? Erinnert mich die Lichtstimmung an etwas? Jede Stadt riecht auch anders. Bei U-Bahnen fällt mir das immer besonders auf. (Vielleicht habe ich auch eine Meise unterm Pony) Aber die Berliner U-Bahn riecht anders als die Kölner „U-Bahn“ und anders als die Londoner Tube. Mal ganz davon abgesehen, dass sie auch alle andern klingen. Vor allem in den Tunneln.

Man sieht so viele unterschiedliche Leute. Wie geht es den Menschen? Was mögen sie machen? Wo kommen sie her? Ich habe mir immer Geschichten zusammen gesponnen. Machen die Leute das heute noch?
Heute noch sitze ich in den aller meisten Fällen ohne Smartphone an der Haltestelle und in der Bahn. Für mich, für meine Kinder. Ich hoffe sie gucken sich das ab. Aber sie sehen natürlich auch die anderen Menschen, die nicht mehr mit dem Gegenüber kommunizieren, sondern mit einem Gerät.

Ich mochte immer Bilder. Ich sehe mir gerne Fotos an. Aber ich selbst habe immer wenig fotografiert. Ich habe nicht immer, aber oft Situationen bewusst gespeichert. Oft sind es ganz banale Dinge, die aber der Schlüssel zu wieder anderen Erinnerungen sind.
In diesen Erinnerungen spielen Gerüche, Temperatur, Geräusche und Lichtstimmung eine große Rolle.
Ich kann mich mit diesen Erinnerungen in den „Urlaub“ katapultieren und sie verblassen auch nicht.
Heute bin ich gelegentlich auch versucht das Smartphone zu zücken und ein Foto zu machen. Meistens mache ich es dann doch nicht. Oft habe ich mein Smartphone auch bewusst nicht dabei.
Ich speichere dann wieder in meinem Kopf ab. Der kann das besser als jedes Foto.

Auch hörte ich mit Begeisterung den Erzählungen meiner Großeltern von früher zu. Heute noch. Da gab es kaum oder gar keine Fotos. Das war immer wieder ein Eintauchen in eine andere Zeit. Können wir heute noch so erzählen? Oder besser gefragt, können wir als Großeltern später noch genauso erzählen, wie es unsere Großeltern können/konnten?
Später kann man  vieles nachlesen. 🙂 Online. Jedenfalls bei den Bloggern 😀

Aber transportiert das alles, was auch eine persönlich vorgetragene Erzählung transportiert?

Ich bin gespannt. Ich weiß nur eines. Wir sollten uns der modernen Kommunikation nicht verschließen. Ich wäre mit sehr großer Wahrscheinlichkeit heute noch nicht in einem Sozialennetzwerk angemeldet, wenn ich keine Kinder hätte. Ich habe mich lange geziert. Aber ich sehe auch, dass ich abgehängt würde und nicht mehr wüsste, was meine Kinder da später machen. Wahrscheinlich weiß ich später trotzdem vieles nicht, weil ich wirklich nicht alles mitmachen will und kann. Aber ein Stückweit weiß ich Bescheid und kann den Weg zur Medienkompetenz meiner Kinder eine ganze Zeit lang begleiten.

Ich hoffe aber auch, dass sie möglichst lange ihre kindliche Entschleunigung beibehalten können und ich ihnen altbacken Tugenden wie Verlässlichkeit, sich dem Gegenüber zu widmen, statt einem Gerät, mitgeben kann. Und ich hoffe sie behalten die Lust mit ALLEN Sinnen zu erleben und dass sie einen alten Koffer mit Geräusch, Geruch und Oberflächenstruktur begreifen und beschreiben können und nicht einfach nur ein Foto mit dem Smartphone machen.

2 Antworten auf „Virtuelle Erinnerungen“

Jetzt stöbere ich gerade wie so oft auf deinem Blog und finde mich hier erwähnt! Ganz lieben Dank dafür! Ja, ja, ja: Das Warten auf Briefe, die Ungeduld, die Vorfreude, ich erlebe das gerade durch deine Worte wieder! Heute wird der Briefkasten meist nur mit Rechungen, Bettel- und Werbebriefen gefüllt. Eigentlich echt schade. Es ist irgendwie ein Stück Kultur dadurch verloren gegangen.
Ich bin den sozialen Netzwerken gegenüber ja aufgeschlossen, aber oft ist es ja nun mal so, dass viel Gepose dabei ist, vieles ist so oberflächlich. Es ist irgendwie eine Eigneart unserer Zeit. Äußerlichkeiten sind plötzlich Eintritts- und Visitenkarten in den Club der Hippen. Dabei miene ich jetzt nicht mal die Profile der Blogger, sondern wirklich jene von Privatpersonen. Ich finde auch, dass es wichtig ist, Neuem aufgeschlossen zu bleiben, denn nur so können wir zumindest ein wenig nachvollziehen, was unsere Kinder beschäftigt und wie ihre Welt aussieht. Ich stimme dir in allen Punkten überein, nur in einem, da unterscheiden wir uns kolossal: Nur mit einer Landkarte bewaffnet, kannste mich auch gleich in der Wüste aussetzen. Das sind für mich Hieroglyphen. Selbst noch mit Navi schaffe ich es mich zu verfahren. Es ist einfach hoffnungslos 🙂

Ich hab dich gern erwähnt, denn du hast mich ja inspiriert. 🙂
Ich muss gerade über dein Landkarten-Rätsel schmunzeln. Aber sei unbesorgt, du kannst nichts dafür. Ich habe mir noch gerade eben einen Vortrag von Vera F. Birkenbihl über „Männer und Frauen-mehr als der sogenannte Unterschied“ angesehen. Die hat da mal ein paar Genderfragen beleuchtet. Ich hatte die ein oder andere Erleuchtung. So ist die Orientierung von Männern und Frauen tatsächlich anders. Wie stark sie sich unterscheiden hängt davon ab, ob man im Mutterleib zu bestimmten Entwicklungspunkten männlich beeinflusst wird oder nicht. Spannende Geschichte. 🙂

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