Liebes Sirenchen,
ich gebe mir von Anfang an große Mühe, dich zu verstehen und dich zu begleiten.
Ich sehe und fühle vieles. Es erschreckte mich nicht, als du sofort nach der Geburt so gebrüllt hast (für so ein kleines Neugeborenes warst du echt schon laut und vehement). Ich blieb ganz ruhig.
Ich trug dich. Ich hielt dich am Körper, wann immer es möglich war und oft genug auch über meine Kraft hinaus. Dein großer Bruder war nur 18 Monate älter als du und brauchte mich auch.
Ich dachte mir allerlei aus, um dich zufrieden dabei zu haben.
z.B. wenn ich mit deinem Bruder ins Bad musste.
Ich habe dich Mittags auf meinem Arm gehalten, während du gedöst hast. Du warst nicht müde genug zum Schlafen, aber brauchtest die Nähe. Ich habe sogar verstanden, dass das NUR in der Küche ging und ich dort auf einem Stuhl sitzen musste. Auf der Couch oder gar im Bett liegend war dir das nicht angenehm. Ich hätte auch so gerne geschlafen. Manchmal war mir, als wolltest du nicht, dass ich schlafe, damit ich wach bei dir bin. Mit dir. Du hast auf meinem Arm ja auch nicht geschlafen. Du hast nur ganz ruhig dagelegen und wachsam geblinzelt und wache Zeit mit Mama getankt.
Abends hast du eine Zeit lang furchtbar gebrüllt. Ich habe versucht dich im Tuch zu tragen, aber das hat dir nicht gefallen. Ich habe dich einfach so auf dem Arm getragen. Aber das war auch nicht richtig. Stillen wolltest du auch nicht. Ich musste dich dann pucken und sachte schuckeln, dann beruhigtest du dich am schnellsten und dann konnte ich dich ablegen und du hast geschlafen und mir Zeit für deinen Bruder gelassen.
Ich habe verstanden, dass es dir mehr als unangenehm war, wenn ich dich aus dem Mittagsschlaf wecken musste, um deinen Bruder in der KiTa abzuholen. Du musstest dich oft einem Tagesablauf fügen, der nicht so ganz deiner war.
Ich habe dein ohrenbetäubendes Gebrüll manchmal verzweifelt und oft auch gequält ausgehalten und die Kommentare der Passanten auf der Straße dazu auch.
Du hast dich zu einem quietschvergnügten und sehr patenten Kleinkind entwickelt. ALLES wolltest du alleine machen, schaffen, können. Vieles gelang. Manches einfach noch nicht und darüber hast du dich auch aufgeregt, wie kein zweites Kind, das ich kenne.
Wutausbrüche mit leerem und starren Blick. Nicht 5 Minuten, nicht 15 Minuten, 60 Minuten waren keine Seltenheit. Manchmal weinten dazu die Geschwister, weil es einfach zu laut war.
Du wurdest mit der Zeit etwas ruhiger. Man konnte dir Dinge erklären und du hast sie verstanden. Du warst in deiner Mitte, weil du zunehmend vieles tatsächlich alleine tun konntest und es gelang.
Und immer, wenn in deinem Leben ein neuer Abschnitt oder eine neue Entwicklung stattfindet, dann gerätst du wieder aus deiner Mitte heraus. Dann taucht der Nachtschreck auf, dann kommt es wieder öfter zu ohrenbetäubenden Wutausbrüchen.
Deine Stimme wird nicht leiser.
Du schreist dein Ungleichgewicht, deine Gefühle, für die du keine Worte hast, heraus.
Wenn es doch nur weniger explosiv wäre. Ich möchte dir zu hören und dir Worte geben für dein Inneres, denn dann kann ich dir besser helfen.
Neulich fragte ich dich: „Was kann ich für dich tun, wenn es dir nicht gut geht und du so schreist?“
„Mich kuscheln!“
Die Antwort kannte ich schon, ohne dass du sie je laut ausgebrochen hast bisher.
Und dein Bruder wandte prompt an dich gerichtet ein: „Aber manchmal geht das ja nicht, weil DU nicht willst!“
Und das stimmt. Manchmal kann ich dich nicht in den Arm nehmen und feste an mich drücken, dann lässt du das nicht zu.
Es hilft nur warten bis du dich von alleine wieder etwas beruhigt hast. Dann kann ich dich wieder ansprechen und kuscheln.
Das ist manchmal nicht einfach auszuhalten. Erst gestern war es nochmal soweit. Ich schwitze richtig und werde wie benommen von dem Lärm. Die Ohren schmerzen und nach deinem Geschrei bleibt ein Fiepton. Deinen Geschwistern geht es übrigens ähnlich. Wir halten uns die Ohren zu und versuchen den Sturm abzuwettern.
Manchmal werde ich auch wütend, weil ich mich so hilflos fühle, wenn der Wutanfall anhält. Obwohl ich ziemlich sicher weiß was der Auslöser war, kann ich nicht mit dir darüber reden, weil auch DU hälst dir die Ohren zu. Du willst mich dann nicht anhören.
Ich bin allerdings guter Dinge, dass wir weiter miteinander wachsen und lernen.
Und wir alle lieben dein großes Herz und deine zarte Seite unter der wilden Schale. Du wirst uns nicht los. Durch kein Geschrei der Welt.
5 Antworten auf „Schrei nur-du wirst uns nicht los!“
Liebe Beatric,
Danke für diesen Text.
Ich hatte bis vor einer halben Stunde ebenfalls einen kleinen schreienden Wut Zwerg hier und bin jetzt ziemlich ausgelaugt. Ich kenne diese Wutausbrüche von ihm ja, trotzdem sind sie anstrengend. Aber dein Text spricht mir aus der Seele und hat mich wieder „gerade“ gerückt weil er ziemlich genau das ausdrückt was ich empfinde. Danke dafür
Und ich schicke dir noch einen großen Karton Geduld rüber
Liebe Grüße Melanie
Ich danke dir! Und ich gebe einen Karton Geduld auch gerne an dich. Es ist echt manchmal alles wahnsinnig. Aber dieses gute Gefühl zu Lieben gleicht alles wieder aus. 🙂
Liebe Beatrice!Vielen Dank für deine liebevollen Worte!Meine Tochter ist deiner sehr ähnlich.An manchen Tagen kann ich das gut aushalten und an manchen schlechter.Heute war ein schlechter Tag…bis ich deine Worte lad und mich wieder erden konnte.Ich danke dir von Herzen!Ich nehme immer ganz viel mit von dir🤗
Liebe Andrea,
ich danke dir für deinen Kommentar! Zum einen freue ich mich auch, wenn ich nicht alleine mit so einem kleinen Pulverfass hantiere und zum anderen freue ich mich, wenn ich etwas „geben“ kann, womit andere etwas anfangen können. ❤️
Das kenne ich alles nur zu gut! Das Geschrei, was ich manchmal kaum aushalten kann, die starke Wut und die Emotionen, die ich ableiten muss. Und auch die Überforderung meinerseits.
Ich bin froh, nicht alleine zu sein 💚